Bildobjekte, Subjekt-Bilder
Lucas Gehrmann
Es gibt nur ein einziges großes Abenteuer,
das innere Abenteuer der Suche nach unserem Selbst,
und dabei spielen weder Zeit noch Raum,
ja nicht einmal Taten eine Rolle.
Henry Miller (1)
Eines haben alle Bilder Zenita Komads gemein: das Format – 150 x 110 cm. Das ist zumindest ihre Netto-Größe, denn durchaus ist es möglich, dass aus ihnen oder über sie hinaus etwas wächst, hängt, ragt, sie verkleidet oder sie miteinander verbindet. Darüber hinaus können sie sich im Raum formieren zu Objekten oder richtiger: zu Räumen – aufgebaut wie Kartenhäuser, zweigeschoßig meist. Deren geschrägte Außenwände zeigen dann jeweils ein vertikales Bilder-Duo; von vorne/hinten betrachtet bilden die zu tektonischen Elementen geratenen (sieben) Bilder mehr-dreieckige, Tor-artige (Durchgangs-)Räume mit zugleich buchstabenähnlichem Schnitt (unten ein M, mittig ein quer liegendes I, als „Dach“ ein querbalkenloses A – was gemäß komadinischer Wort-Kombinatorik gelesen werden kann als „I am“, „am I a (?)“, aim“ u.s.f.); und in der Schrägbild-Ansicht geraten sie zum Objekt, das alle genannten Eigenschaften (in sich) vereint. In diesen multiperspektivischen Bild-Raum-Text-Objekt-Gefügen finden überdies sowohl extro- als auch introvertierte „Kommunikationen“ statt: vier Bilder wenden sich explizit ihren BetrachterInnen zu, zwei – die inneren im Erdgeschoß – sind primär einander zugewandt, und eines, das lastend-tragende horizontale Bild, verrät uns Außenstehenden nichts über sich selbst, sofern es ins Dach hinauf blickt.
Mag sein, dass diese (meine) deutende Beschreibung von Zenita Komads Kartenhäusern die Konzeption der Künstlerin zu stark ins Theoretische verzerrt – vielleicht waren konkret an dieser Findung viel stärker gestalterisch-spielerische Momente beteiligt –, aus der Sicht „von außen“ auf ihr vielgesichtiges Werk wirken sie exemplarisch für die Intention, einem konditionierten, präfigurierten Blick auf die Dinge die individuell variable, subjektivisch-persönliche Position zur Seite zu stellen und damit zu deklarieren, dass „Welt“ nicht allein – oder womöglich gar nicht – aus „objektiver“ Beschreibung heraus zu begreifen bzw. zu beschreiben ist. Friedrich W. Nietzsche hat das vor etwa 140 Jahren verbal vor-formuliert: „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ,Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ,Begriff‘ dieser Sache, unsre ,Objektivität‘ sein.“ (2) Nietzsches Objektivitätsbegriff war (und ist!) mithin keineswegs identisch mit jenem der (Natur-)Wissenschaften, „Objektivität“ ist bei ihm eher zu verstehen als ein (nie zu erreichendes) Ziel, dem sich der Mensch/das Subjekt am ehesten mittels beständigen Sicht-Wechsels auf „eine Sache“ zu nähern vermag – über eine also multiperspektivische Betrachtungs- und durchaus auch Empfindungsweise. Dies inkludiert den subjektivischen, persönlichen Anteil am „Objektivierungsprozess“ – was eigentlich als Selbstverständlichkeit anmutet, im wissenschaftslogischen Denken und Handeln allerdings nicht berücksichtigt wird. Die Sicht auf die Dinge erfolgt dort vielmehr über eine Metaebene, über diejenige eben der Wissenschaftssprache, die konstruierten Regeln und Ordnungen folgt und in der dem Subjektivischen, Persönlichen kein Platz eingeräumt wird – schon gar nicht dem „Affekt“, den es schon für Kant zu zähmen galt, war er doch für ihn „das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subject die Überlegung (die Vernunftsvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen lässt“. (3)
Zenita Komad steckt neuerdings ältere Bilder in ihre eigenen Kleider. Der 2005 geäußerten Bildtext-Aussage Gott ist (nicht) das Nichts hängt sie einen blaugrünen Blazer um, aus dessen Außentasche ein roter Kamm hervorleuchtet. Zu lesen ist jetzt (nurmehr): OT VST (icht) AS ICHT. Der Blazer fungiert damit als partieller Vorhang eines Rätsels, den wir zwar – barbarisch? – öffnen können, um zu höherer Erkenntnis zu gelangen (nebenbei: in der Antike und in der Renaissance war es üblich, Gemälde mittels Vorhängen vor Licht wie auch unbefugten Blicken zu schützen), er ist zugleich aber auch persönliches Utensil der Autorin, die uns damit sagen dürfte: das bin ich – und um was anderes kann es gehen, als unser eigenes Selbst zu finden?
1) Henry Miller, Wendekreis des Steinbocks, Roman, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1997, S. 11f.
2) Friedrich W. Nietzsche, Genealogie der Moral, 3. Abhandlung, § 12, in: Nachgelassene Schriften von 1886/1887; s. Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke in 23 Bänden, München 1920–1929
3) Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bd. VII, S. 251 (Berlin 1968), hier zit. nach: Birgit Recki, „Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen? Immanuel Kant über ästhetische und moralische Gefühle“, in: Klaus Herding, Bernhard Stumpfhaus (Hg), Pathos, Affekt, Gefühl: Die Emotionen in den Künsten, Berlin: de Gruyter 2004, S. 276