Back To The Roots oder Anleitung zur richtigen Wurzelbehandlung
August Ruhs
Die in verschiedensten Zusammenhängen erfolgende Beschäftigung mit Wurzeln ist uns vor allem aus den Bereichen von Ackerbau, Forstwirtschaft, Ernährung und Gartenkunst geläufig, ferner auch aus den Gebieten der Zahnheilkunde, der Mathematik und der Philosophie, wobei in letzter Zeit das „Wurzelziehen“ als Haarwurzelzerstörung auch in der Dermatologie Eingang gefunden hat. In der bildenden Kunst des Abendlandes hat die Wurzel bislang allenfalls randständige Bedeutung erlangt, sofern man die vornehmlich in der Volks- und Sonntagskunst beheimateten Wurzelschnitzereien außer Acht lässt. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass in der skulpturalen Kunst Chinas auch Wurzelschnitzwerke bedeutsame und kostbare Kunstschätze darstellen.
Im auffallenden Signifikatsüberschuss und in der breit gestreuten Bedeutungsvielfalt des Signifikanten „Wurzel“ bildet sich eine materiell fundierte begriffliche Herkunft ab, die einen sinnfälligen Ansatzpunkt für eine Metaphorik des Ursprungs, des Verborgenen und des Vergrabenen liefert, verbunden mit den Attributen solider Verankerung, weit reichender Verzweigung und Verästelung sowie mit den Tätigkeiten des Lockerns, Lösens, Ziehens und Reißens. Der uns gewohnte Begriff „Wurzel“ ersetzte im 17. Jahrhundert weitgehend den Begriff der „Wurz“, welcher als Synonym für Pflanze (mit den Ableitungen der unter „Würze“ laufenden Wörter) verwendet wurde und welcher somit auf einen Bedeutungsursprung in der Botanik verweist. In dieses semantische Feld buchstäblich eingebettet erhält der Begriff auch einen privilegierten Platz unter den „Urwörtern“, sofern man geneigt ist, der (allerdings vielen eher kurios erscheinenden) Sprachtheorie von Hans Sperber Glauben zu schenken. In seinem 1912 publizierten Aufsatz „Über den Einfluss sexueller Faktoren auf Ursprung und Entwicklung der Sprache“ postuliert Sperber, dass der Schlüssel zur menschlichen Sprache im Sexuellen zu finden sei und dass die ersten Arbeitstätigkeiten und die ersten Werkzeuge dem Vorbild der sexuellen Kopulation entsprochen hätten, so dass unter dem Einfluss derartiger Phantasien die entsprechenden Arbeitsverrichtungen mit sexueller Spannung einhergegangen seien, deren Abfuhr wiederum durch begleitende Laute analog zum Sexualakt erfolgt sei. Unter den daraus entstandenen Urwörtern hätten solche aus dem primären Tätigkeitsbereich des Ackerbaues paradigmatische Bedeutung, was sich in entsprechenden Begrifflichkeiten bis in die Gegenwart hinein in einer Vielzahl von Konnotationen äußere, die der Sexualität und der sexuellen Fortpflanzung entsprächen. In dieser Hinsicht wäre dann auch die im „Schoß der Mutter Erde“ vergrabene „Wurzel“ Sinnbild und Symbol eines menschlichen Organs, dessen weitere Kennzeichnung sich hier wohl erübrigen dürfte. Bei aller Skepsis gegenüber derartigen Behauptungen und Theorien sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass zumindest ontogenetisch die Sprachentwicklung des frühkindlichen Individuums an originäre Erfahrungen und Zustände gebunden ist, die aufs Innigste mit Lusterleben und Unlustvermeidung in einer Welt fast ausschließlicher Körperlichkeit zusammenhängt, so dass auch im Leben des Erwachsenen jedem Erleben und jeder Äußerung ein freilich vorwiegend unbewusster Gehalt an Sinnlichem aus dem Schatz derart früher Erfahrungsweisen anhängt. In einer beeindruckenden Arbeit „Über die Rolle der Schule in der libidinösen Entwicklung des Kindes“ hat die Psychoanalytikerin Melanie Klein 1923 nachgewiesen, dass trotz der angeblichen sexuellen Latenzzeit im Laufe der ersten schulischen Sozialisation der Erwerb des Schreibens und Rechnens bei Kindern mit der Ausformung von Phantasien einhergeht, die an sexuellem Gehalt nichts zu wünschen übrig lassen. Auf Grund ihrer Unzerstörbarkeit werden auch im reifen Leben solche Phantasien mit entsprechenden Beschäftigungen und Tätigkeiten als deren latent sexuelle Ladung assoziiert bleiben, selbst wenn diese Aktivitäten in ihrer Abstraktheit, wie etwa im Falle der Mathematik und der Philosophie, über jeden Verdacht von Sinnlichkeit und Erotik erhaben zu sein scheinen. Bisweilen tauchen solche Latenzen in den Signifikanten selbst auf, so wenn etwa einer Zahl, die sich sozusagen unmäßig aufbläht, eine Potenz zugesprochen wird, woraus sich – in einer Umkehrung der Potenzierungsfunktion – der „kastrierende“ Akt des „Wurzelziehens“ ergibt.
Heimliche Nebengedanken aus den verborgenen Gründen des „Hinterkopfes“ und aus privaten Lebenszusammenhängen sind selbstverständlich auch in den Aussagen und Argumentationen der abstrakten Denkgebäude der Philosophie aufzuspüren. Dies kann dann unberechtigterweise dazu führen, dass Theorien oder einzelne Theoreme oft ganz auf persönliche Problembewältigungen und Konfliktlösungsversuche des jeweiligen Autors reduziert werden. Sofern sich aber Aussagen und Sätze außerhalb jeder Biographik als allgemein gültig und richtig erweisen, kann die „Wurzel“ einer Erkenntnisproblematik auf den zwei Ebenen eines Erkenntnisfortschritts einerseits und einer privaten (und zumeist vornehmlich unbewussten) Erfahrung andererseits verhandelt werden. Als ein Beispiel dafür sei Arthur Schopenhauer angeführt, dessen Abhandlung „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ (des Satzes also: „Nichts ist ohne Grund, warum es sey.“) nicht nur eine differenziertere Frage- und Antwortstellung bezüglich des besagten Sachverhalts und einen Schlüssel zum Verständnis seines Hauptwerkes liefert, sondern auch den Anfangspunkt einer polemisch geführten und immer unerbittlicher und dreister werdenden Kritik an Hegel auf Grund einer persönlichen Kränkung durch denselben darstellt. Der „vierfachen Wurzel“ eines philosophischen Begründungszusammenhangs, der unter Berücksichtigung von vier Klassen von Objekten vier gleich berechtigte Sätze vom zureichenden Grund zulässt, ohne diese unter eine dahinterliegende apriorische Kategorie zu zwingen, gesellt sich somit eine „fünfte Wurzel“ hinzu, die auf die intimsten Beweggründe und Impulsgeber für menschliches Denken und Handeln verweist.
Andere „Wurzelbehandlungen“, die wie etwa in der Zahnmedizin Körpermanipulationen darstellen, sind hinsichtlich unbewusster Begleitvorstellungen, die in diesem Fall zu Angstzuständen bis zur Ausbildung von regelrechten Phobien führen können, besonders sensibel. Dabei kommt der Mundregion und den Zähnen nochmals erhöhte Empfindlichkeit zu, da sie, wie sich nicht zuletzt in diversen Traumbildungen zeigt, im Unbewussten als „Verschiebung nach oben“ mit den genitalen Körperregionen assoziiert sind, welche bekanntermaßen zu den heikelsten Teilen des menschlichen Körpers gehören.
Ein geglücktes Vorhaben, „Wurzeln“ von einer anderen Perspektive aus an der Wurzel zu packen, findet sich in den gleichnamigen bildnerischen Gestaltungen Zenita Komads, die damit diesen Topos mit Nachdruck in die Thematik der bildenden Kunst einführt und den Gegenstand gleichzeitig auf eine objektale und sinnlich erfahrbare Ursprünglichkeit diesseits jeder Metaphorik und diesseits aller abstrakten Konnotationen zurückbringt. In zahlreichen Variationen und verschiedenfarbigen Fassungen reichen ihre Wurzelskulpturen allerdings über dreidimensionale Abbildungen eines begrifflichen Prototyps botanischen Ursprungs hinaus, was schon dadurch bedingt ist, dass diese Wurzeln nicht in der Tiefe einer vertikal gerichteten Topologie verankert sind, sondern vielmehr aus der Wand, sozusagen aus der Leinwand herausragen und damit auch auf die Wurzeln der Malerei verweisen. Wenn man die „Windelmalerei“ des Säuglings als ersten malerischen Akt des Menschen betrachtet und darin das Hinterlassen einer sichtbaren Körperspur als wesentlich erachtet, so ist auch die Malkunst als solche dadurch charakterisiert, dass das Künstlersubjekt immer auch sich selbst, Teile seines eigenen Selbst oder aber Manifestationen seines Begehrens in seinen bildnerischen Gestaltungen deponiert. Das Streben nach Festigung seiner Identität und nach seiner Verankerung in der Welt, das Streben also, irgendwo beheimatet und verwurzelt zu sein, gehört sicherlich zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Auf dieses Begehren sinnfällig hinzuweisen und eine diesbezügliche Sehnsucht plastisch zu artikulieren, mag eines der Motive für die Wurzelmotive Zenita Komads sein. In einem anderen Fall, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hat sich ein solches Begehren, allerdings wohl als Ausdruck einer Ironie des Schicksals in anderer, nämlich sprachlicher Form, eindrucksvoll geäußert: aus der Biographie des Bühnendichters Jean Racine wissen wir, dass er schon sehr früh zum Waisen wurde und dass er in einem Kloster aufwuchs. So hat sich in seinem Eigennamen sein „wurzelloses“ Dasein buchstäblich aufgehoben.