Und Zarathustra geht zurück in die Berge und schweigt
von Alexander Pühringer
Der Mann war weise geworden in den letzten zehn Jahren, die der inzwischen Vierzigjährige als Einsiedler hoch oben in den Bergen, weit weg von jeglicher Zivilisation verbracht hatte. Nun war er bereit, seine Lebenserkenntnisse mit den Menschen zu teilen und predigte auf dem Marktplatz zu ihnen. Doch seine Ausführungen über den von ihm so genannten „Übermenschen“ quittierten diese nur mit Hohn und Spott. Daraufhin mied Zarathustra Menschenansammlungen und begab sich auf die Suche nach Gleichgesinnten. Das Wichtigste an seinen Predigten jedoch war die zentrale Botschaft: „Gott ist tot!“ Auch die Frau wird heftig attackiert vom Urheber dieses Sprachwerks, Friedrich Nietzsche. Und in vier poetisch weit ausholenden Bänden entwirft der Philosoph in dem dichterischen Konvolut eine Vision vom Zukunfsmenschen, den er über den gegenwärtigen gestellt sehen wollte. Eine Überwindung des Göttlichen also, die im Menschen aufgeht. Aus Sicht Zarathustras waren vor Gott alle Menschen gleich. Mit dem von ihm proklamierten Tod Gottes hingegen sind die Menschen nur noch vor „dem Pöbel“ gleich. Darum ist der Tod Gottes die große Chance für Nietzsches Übermenschen.
An genau diesen von Friedrich Nietzsche in dem Werk „Also sprach Zarathustra“ totgesagten Gott hat die in Wien lebende österreichische Künstlerin Zenita Komad unlängst einen Brief geschrieben: „lieber gott, ich liebe und preise dich. es gibt nichts außer dir. ich bitte dich um hilfe, weil ich selbst nicht weiß, was ich tun soll. ich bitte dich um korrektur. gib mir die fähigkeit des glaubens über den verstand und über alles. deine zenita“. Nun dürfen wir uns zunächst einmal fragen, ob die Künstlerin hier einen Schabernack mit uns Betrachtern treibt oder was es sonst mit dieser kindlich naiven Schreibweise an den Allmächtigen auf sich hat. Persiflage? Ironie? Oder gar versteckte Blasphemie? Mitnichten! Zenita Komad meint diese Zeilen wirklich ernst. In einem unlängst veröffentlichten ausführlichen Gespräch über ihre Arbeiten zu Gott und Liebe spricht sie unverblümt von der schon früh bei ihr als Kind ausgeprägten „Notwendigkeit“, mit Gott zu sprechen: „Es ist eine Liebesbeziehung, die durch Zweifel und Unsicherheiten gefährdet wird. Seit die Wissenschaft, Quantenphysik, Molekularbiologie, etc. über die Anerkennung „der höchsten Instanz“ spricht, werden die meisten Menschen wieder hellhöriger.“
Zenita Komads Zeichnungen, Collagen, Bilder und installativen Bilder zum Thema Gott und Liebe sind zunächst einmal eines: berührend. Da thront auf einem uralten Schwarz-Weiß-Stich anstelle eines Kopfes ein riesiges Herz, das die Hauptadern des Blutpumporgans freigelegt zeigt. Der Stich zeigt das Bildnis von Johannes de Wael, so viel gibt uns die Unterzeile von Komad am Bild als Kennzeichnung belassen. Urheber des Stichs ist der Niederländer Adriaen Lommeln (um 1620–nach 1677), dessen Berufskollege de Wael von 1559–1633 gelebt hatte und der auch in einem wesentlich bekannteren Kupferstich von Antony van Dyck porträtiert worden war. Über Umwege gelangt man in der Deutung dieses Blattes von Komad zur berühmten Kantate von Johann Sebastian Bach, BWV 147: „Herz und Mund und Tat und Leben“. Das zentrale Thema des Werks ist das öffentliche Bekenntnis zu Gott und Jesus. (Die zu den bekanntesten und populärsten Werken Bachs zählende Kantate schaffte es übrigens im Jahr 1972 in der Pop-Version der Gruppe „Apollo 100“ unter dem Titel „Joy“ auf Platz 6 der US-Charts.) Unter dem von Komad manipulierten Bildnis steht: „Um würdig zu werden, braucht man die Erweckung von Oben“. Dieses großmütige Herz, von dem wir umgangsprachlich meinen, es erhöhe uns als Menschen, ist nötig, um eine große Tugend des Menschen zu zeitigen, nämlich die Fähigkeit zu verzeihen. In der Boden-Wand-Arbeit „(ICH) VERZEIH MIR (UND ALLEN ANDEREN), bei der das „ICH“ auf den Boden gefallen zu sein scheint und „VERZEIH MIR“ vertikal auf einem Sandbild nach unten hin zu lesen ist integriert die Künstlerin neben den Profanmaterialien Holz, Granit, Sand, Karton und Leim auch „Heilige Substanzen“. Die in Sand gepressten Wörter, die einen Satz bilden, den man mehrfach verschieden lesen kann, zeigen in ihrer Materialität auf die Vergänglichkeit von Welt und zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn man so will, sind sie auch ein Sinnbild für Ewigkeit und stete Wiederkehr, was wiederum Zarathustra gefallen würde. Die Reliquien hingegen sind Andeutungen von Religionspraxis, nicht aber Zuordnungen zu einem dogmatischen Katholizismus, die hier gemeint sind. Zenita Komad ist zwar getauft, hat aber in einem selbstbstimmten Akt die dogmatische Kirche verlassen und einen individuellen spirituellen Zugang für sich entworfen zu einem „höheren Ganzen“. Damit geht sie zuweilen auch ihren Bekannten und Freunden auf die Nerven, klingt doch manches aus ihrem Mund wie Sektiererei oder blanker Esoterik. Doch Zenita Komad zeichnen zwei Tugenden aus: Ernsthaftigkeit und Hartnäckigkeit.
Nach Aussage ihrer Mutter wusste sie schon im zarten Alter von vier Jahren, dass sie später einmal Künstlerin werden wollte. Eine bewusste Entscheidung trifft sie dann mit 16 Jahren und entschließt sich zu einem Studium an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. Mit einer beispiellosen Schöpfungs- und Überzeugungskraft hat sie in den darauf folgenden 16 Jahren eine unglaubliche Dichte an schöpferischen Werken zutage gefördert aus ihrem schöpferischen Herzen. Eine Oper war darunter, eine Messe, zum Teil extrem aufwändig konstruierte Werkkomplexe, bei denen ihr viele Weggefährten zur Seite standen wie große Burgschauspieler und andere Heroen aus benachbarten Kunstsparten. Nach vielen Jahren in mannigfaltigen Genres an Themata konzentriert sie sich aber nun schon seit geraumer Zeit auf Gott und die Liebe, die Beziehung zwischen den Menschen und ihre Konfliktherde und Lösungsvisionen.
Eine weitere Schlüsselarbeit aus der „Gott und Liebe“-Werkgruppe zeigt das in französischer Sprache wie ein religiöses Kalenderblatt anmutende Schriftbild mit dem Titel „Beine hat uns zwei gegeben, G-tt der herr, um fortzustreben. wollte er, dass an der scholle unsere Menschheit kleben solle, um ein stillstandsknecht zu sein, genügte uns ein einziges bein“. Tatsächlich handelt es sich bei dem Text um die französische Übersetzung des Beginns eines wesentlich längeren, religionskritischen Gedichts von Heinrich Heine. Wiederum bezieht sich Komad hier auf einen Freigeist, der Heinrich Heine sicherlich war. Gemeinsam mit ihm hat sie eine unerschütterlich kritische, aber dennoch liebe-volle Sicht auf das Weltganze. So ist in vielen Arbeiten aus diesem Werkkomplex der Topos der Heilung oft spürbar und der hoffnungsvollen Sinnsuche, der Vergebung, der Demut und der Wahrheit. In einem weiteren Blatt zitiert sie in einem das Papier mehr als zur Hälfte füllenden Text eine Passage aus der lurianischen Kabbalah nach Michael Laitman. Wiederum geht es um die Position des einzelnen Menschen gegenüber der Gottheit, um das Selbst und um die Verantwortung im Umgang miteinander. Es geht um Fragen des Schicksals, der Vorsehung und der übergeordneten Zusammenhänge, in denen wir Menschen uns bewegen im Leben.
Geht man auf die Webseite von Zenita Komad, so bemerkt man spätestens dann, dass sie universell denkt in ihrer künstlerischen Praxis. Das „Zenita Universe“ findet man da, eine Fortentwicklung der ursprünglich mit „Zenita City“ benannten Welt der Künstlerin, in der alles mit allem verbunden ist. Universell ist auch ihr Anspruch an eine künstlerische Praxis, die aus der Zeit heraus zu denken ist und durchaus bereit ist, in ihren Visionen sich dem Vorwurf der Lächerlichkeit auszusetzen. Wie ein kleines Kind, das an den lieben Gott einen Brief schreibt, fertigt Komad unermüdlich ihre Proklamationen für einen Weg zu einer besseren Welt mit besseren Menschen. Wie ein Sysiphos schleppt sie den schweren Stein der für die Spezies Mensch allgemein gültigen Lebensproblemata, die Lebensk(r)ämpfe und –schmerzen immer wieder den steilen Parnassus hinauf, um ihn auf der anderen Seite wieder herunterrollen sehen zu müssen in die irdischen Gefilde der Lebensrealitäten im universellen Menschenchaos. Man muss Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern gebären zu können, schrieb Nietzsche, der Verfasser des Zarathustra einmal. Komad geht stringent vor in ihrer künstlerischen Entwurfsplanung, wenn sie sich selber bescheinigt: „Ich befasse mich mit dem Herz als Hauptwohnsitz meiner Seele. Der Altar befindet sich darin und alles, was ich brauche, ist dort zu finden: die Möglichkeit, mich zu verbinden und die „Anderen“ als ausgelagerten Teil meiner Selbst wahrzunehmen.“ Das Universum hat eine Sonne so wie der Mensch ein Herz, dem Sitz der Seele also. Aber es gibt auch Schatten, von denen Komad im Zusammenhang mit ihrem „Zenita Universe“ spricht. Für sie ist es ein Verbindungswerkzeug, indem sie versucht, das Schöpfungswerkzeug nachzuahmen. Hier kommt von ihr auch die Rede auf die Vision einer altruistischen Menschengemeinde. Kunst darf eben noch Utopien skizzieren, wo die Realiät solche schon lange nicht mehr gewährt. In ihrer Arbeit „Gott ist kein Bankomat“ zeigt sie mit dem Finger auf den Missbrauch des Betens zu Gott als Gewissensberuhigung und Befriedigung eogistischer Wunschvorstellungen. Man kann darin aber auch eine leise Anspielung auf die Verwerfungen der spätkapitalistischen Auswüchse des katastrophalen und desaströsen Geldsystems sehen, bei dem auch das Bankenwesen seinen Seitenhieb abbekommt. In der Parallelarbeit „Der Bankomat ist die Klagemauer der Postmoderne“ schließt sie thematisch eng daran an. Aber bei allem künstlerischen Pathos ist die Künstlerin eines sicherlich nicht: eine naive Gottesanbeterin. Zenita Komad schert sich nicht um die institutionellen Zugriffe auf Religion in ihrer Ausübung durch die Menschen. Zarathustra hat Gott für tot erklärt. Doch dabei hat er nicht mit der künstlerischen Kraft von Zenita Komad gerechnet. Darum hat er sich wohl wieder hinauf in die Berge verzogen und schweigt nun auch betreten in seinem selbstgewählten Einsiedlertum. Denn nur in der Gemeinschaft vollzieht der Mensch sein tiefstes Wesen.