Susanne Längle
Den einen trifft er im besten Alter, den anderen zur rechten Zeit, und manchen auf dem Spielplatz: „Sandkastenliebe“ nennt man das dann. Dass der halbwüchsige Knabe Eros sich dort gern herumtreibt, sollte eigentlich nicht verwundern. Den Bogen stets gespannt, treffen seine Pfeile unerwartet – und manchmal voll daneben. Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Samson und Dalila: Sind die einen in Liebe entbrannt, verzehrt die anderen die Leidenschaft. Das Spiel mit dem Feuer, es gerät nicht selten zum Schlachtfeld. Es wird erobert, verletzt, verraten und geopfert. Liebe ist riskant. Liebe ist Chaos. Liebe ist der Anfang von Allem. „Beziehungskiste“ lautet die Kapitulation. Keiner hat gesagt, dass es einfach wird.
Eine Holzkiste, angefüllt mit Sand und durchschossen von riesenhaften Pfeilen, partiell verkohlt, darunter loderndes Rot einem Schwelbrand gleich, und überall Namen von Liebenden – eingeritzte Zeichen als Versuch, Gefühle der Vergänglichkeit zu entreißen: Dergestalt zeigt sich das Herzstück der Installation „At the Beginning was Simplicity“ von Zenita Komad. Ein Sandkasten als metaphorisches Konzept von Beziehungen. Ein Kontakthof, wenn man so will. „Contactus“, Berührung, lautet die lateinische Übersetzung von Kontakt. Die abgekürzte Form „tactus“ bedeutet Tastsinn. Beides kommt hier zusammen. Nehmen wir Platz auf der Sitzfläche, greifen wir nach dem Sand zu unseren Füßen, werden wir nicht nur Teil des Kunstwerks. Wir treten ein in einen gleichfalls geistigen wie sinnlichen Dialog: Erinnerungen und Assoziationen werden evoziert. Wir lassen den Sand durch unsere Finger gleiten, ziehen Spuren, scharren und häufen, wir versinken im Spiel. „Der Mensch [...] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ schrieb Schiller in seinem Aufsatz "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1794). Für den Dichter sind die Sinne die Voraussetzung für die Vereinigung von Materie und Geist, ohne sie sei der Mensch „bloß Form“. Die Dualität zwischen Sinnlichkeit und Geist aufzuheben vermag der Spieltrieb, dessen höchster Ausdruck die Kunst sei. Entwicklungspsychologisch gesprochen ist das kindliche Spiel eine Propädeutik für die spätere ästhetische Kompetenz, eine Art ästhetische Alphabetisierung: Spielerisch finden wir zu uns selbst. Und zur Kunst.
Der Griff ins Formlose – in den Materialbildern von Zenita Komad gerät er zur Manifestation. Als seien sie der Sandkiste enthoben, wirken die Bilder des dazugehörigen Werkzyklus. Sensualität und Rationalität, Empfindung und Begriff scheinen hier in eins zu fallen: Aus samtig-sandiger Fläche stehen Buchstaben hervor, wie eben erst mit Formen aus nassem Sand gestochen. Sie wirken surreal, müssten sie doch ihrer amorphen Natur und dem Gesetz der Schwerkraft gehorchend, zerfallen und zu Boden rieseln. Stattdessen behaupten sie sich in ihrer Körperlichkeit, zeigen sich von allen Seiten, machen Sinn und Unsinn, stehen Kopf, tanzen aus der Reihe und geben dem Bild Dynamik und Struktur. Die Verwendung des Naturstoffes Sand als künstlerisches Material und der gleichzeitige Gebrauch von Worten mag an Materialbilder von Antoni Tàpies oder die Erinnerungskunst Anselm Kiefers erinnern. Wie jene bilden sie nicht ab, sondern rufen auf, Geschichte und Geschichten gleichermaßen. Doch verweisen die Arbeiten von Zenita Komad im Fokus auf die skulpturale Ausformung und flächige Anordnung der Zeichen stärker noch an visuelle konkrete Poesie: Komads Wortmalereien eröffnen Spielräume, die über die Semantik hinausgehend das konkrete Material der Sprache zur Anschauung bringen.
“Cold Coffee Steam makes Beautiful” so lautet der Titel einer Arbeit, die mit einem strahlenförmigen Konglomerat von Sprachzeichen konfrontiert. Dem geneigten Betrachter erschließt sich der Text jedoch ebenso wenig, wie im Kaffeesatz die Wahrheit zu lesen ist. Kalter Kaffee dampft nicht. Und schön macht er auch nicht. Ebenso wenig wie erkaltete Liebe. Desillusion, Konfusion, sinnloses Gedankenkreisen: dem Verlassenen scheint die Linearität des Lebens aufgebrochen, der einstige Mittelpunkt ausgelöscht: Das Ineinandergeschobensein der Buchstaben O im Zentrum des Bildes, einst Ausdruck engster Verbundenheit, wird rechts und links flankiert von den Buchstaben T. Die Vergänglichkeit der Liebe: So eine Lesart. Doch Komads Sprachbilder sind keine geschlossenen Systeme. Sie formen Realitäten und Sinnhorizonte, die herauszulesen eine hermeneutische Aufgabenstellung für den Betrachter bedeutet.
„This Painting is blackmailing Your Ego“ heißt eine weitere Arbeit: Buchstaben laufen am Rand der Leinwand entlang, in sinnloser Reihung wie ein Nachrichtenticker mit Fehlinformation, um schließlich in einer Sackgasse zu enden, markiert von den ersten beiden Zeichen des Alphabets, die etwas blutleer das Präfix AB bilden. Ab-geschnitten, ab-gehängt: Die egozentrische Selbstumkreisung erfährt hier eine brüske Zurückweisung. Eine Parabel auf den Narzissmus? Weniger abgeschlossen und auf sich selbst bezogen ist das Materialbild „(Ich) verzeihe mir“. Verzeihen als Akt des Aufeinanderzugehens findet hier seine formale Entsprechung in Buchstaben, die aus der Fläche heraustreten und sich dem Betrachter im Profil zeigen. Einen Schritt weiter geht das Wort ICH, das den Bildraum verlässt und seinem Sinn gemäß als Kleinskulptur eine eigene separate individuelle Identität annimmt. In Sartrescher Manier ins Nichts geworfen, wird es zum Symbol existenzieller Einsamkeit.
Zurück zum Bühnenraum Sandkiste, zurück zum Ursprung: Am Anfang war gähnende Leere, so weiß es die griechische Mythologie; Eros entstand aus diesem Chaos, ebenso Gaia, die Göttin der Erde. „Die Erde war wüst und leer“ – anfängliches Chaos also auch in der Bibel. Aber, so ist dort auch zu lesen: „Im Anfang war das Wort“. Wörter sind die Bausteine unseres Denkgebäudes, Sprache nach Heidegger das „Haus des Seins“. At the Beginning was not Simplicity“ – zu diesem Schluss kommt Zenita Komad. Statt Eimer und Schaufel für eine Sandburg gibt die Künstlerin uns Werke u.a. von Seneca, Goethe und Hölderlin, Rilke und Stendhal, Adorno, Barthes, Beauvoir und Butler in Form von 32 Zeichnungen in die Hand, auf dass wir uns eine Welt erobern. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ hören wir Wittgenstein sagen – keiner hat gesagt, dass es einfach wird. Doch auch ein Kochbuch entdecken wir zwischen all der Weltliteratur, und das Kamasutra – at the beginning is love!
Copyright: Susanne Längle, Wien 2010.
Unveröffentlichter Essay, voraussichtlicher Erscheinungstermin Herbst 2010;
Abdruck von Zitaten nur mit Nennung der Autorin.